Ein Tag im Tournee-Leben
7:50 Uhr
Ring-Ring
*Schlummerfunktion*
7:55 Uhr
Ring-Ring!
*Schlummerfunktion*
Auf Tournee beginnen meine Tage fast alle gleich - der Wecker läutet und ich suche im Halbschlaf nach der Schlummerfunktion. Wenn ich dann langsam zu mir komme, ist mein erster verschlafener Gedanke: Wird heute ein turbulenter oder ein ruhiger Tag werden? Sobald mein Gehirn auf Hochtouren zu laufen beginnt, ist auch die Antwort auf meine Frage glasklar und die Schläfrigkeit ist wie weggeblasen – es ist Premierenabend!
Guten Morgen, Welt. Es ist Zeit anzufangen.
8:50 Uhr
Vom Hotel zum Theater. Die Tänzer
fahren mit dem Tourbus zum Theater. (Hut ab vor der Produktions- und
Aufbau-Mannschaft, die das Hotel bereits vor einigen Stunden verlassen
hat.) Ich Frühstücke gerne, deswegen stehe ich früher auf, um vor dem
langen Tag genug Zeit zu haben um aufzutanken. Die Spätaufsteher
entscheiden sich meistens für einen Becher nahrhafter Suppe und einigen
Toasts für unterwegs.
9:30 Uhr
Aufwärmunterricht. Ohne den Komfort großer
Tanzräume, wie wir sie in der Zentrale haben, erfordert eine gute
Aufwärmroutine auf Tour Einfallsreichtum und Flexibilität.
In vielen Theatern greifen wir auf die Lobby zurück. Hier stellt das Geländer oft eine ausgezeichnete Barre da (wenn wir kein passendes Geländer zu Verfügung haben, verwenden wir auch Theken, hohe Stuhllehnen und manchmal auch Türen). Mit Yoga-Blöcken auf der Treppe können wir in den Spagat und darüber hinaus gehen. Wir freuen uns auch über spiegelnde Aufzugstüren, in denen wir uns wie in einem Ganzkörperspiegel gut sehen können.
Einige Lobbys haben jedoch tief hängende Kristallluster – da müssen wir bei jedem Sprung auf unsere Köpfe aufpassen. Andere haben einen schrägen Boden – eine ausgezeichnete Möglichkeit die eigene Balance zu üben. In Marmor-Lobbys, besonders im Winter, sind die Füße in den Tanzschuhen eiskalt. Aber wenn man die Vorteile des rutschigen Bodens nutzt, kann man die Drehungen während einer Pirouette verdoppeln. Teppiche sind angenehmer beim Dehnen, aber nach ein paar hundert Kicks sind die Tanzschuhe an den Zehen schon ziemlich abgenutzt.
11:30 Uhr
In der Mittagspause werden viele wertvolle
Momente miteinander geteilt. Das kann alles sein, vom Schwärmen über
das leckere gebratene Filet, oder das Genießen einer dekadenten
Dessert-Kreation bis hin zum Erzählen lustiger Geschichten. Ich liebe
das Mittagessen auch aus dem Grund, weil es eine Pause von unserer
intensiven Morgenroutine ist. Danach schlendern wir zurück zu unseren
Umkleideräumen und trinken etwas. Mein Favorit? Eine große heiße
Schokolade.
Als Nächstes laden wir unsere Batterien weiter auf – mit der täglichen Meditation. Die Meditation lindert meine Beschwerden (körperlich und geistig) und macht mich klarer. Für mich sind 30 Minuten im doppelten Lotussitz besser als ein Nickerchen.
13:40 Uhr
Vorbereitung und Abstände checken. Pssst!
Der Soundcheck läuft. Das bedeutet, die Tänzer sind besonders ruhig und
es werden die Kostüme und Requisiten für die Show vorbereitet. Das ist
einer der wichtigsten Schritte bei der Vorbereitung. Fünftausend Jahre
chinesische Kultur in einer zweistündigen Show zu zeigen, bedeutet, dass
jeder Tänzer in weit über ein Dutzend Kostüme schlüpft und sich
manchmal in weniger als einer Minute umziehen muss. Im
Schnellumkleideraum sind Tempo und Organisation entscheidend. Man ist
besser auf der sicheren Seite, als dass man etwas vergisst. Ich prüfe
immer dreifach, ob etwas fehlt oder ob ich etwas verkehrt gemacht habe.
Jede Bühne ist anders. Manche sind fast quadratisch. Andere wieder super eng. Einige haben eine 18 Meter breite Vorbühne. Andere sind oft nur halb so groß. Bei einigen Theatern ist der Weg auf die Bühne schmal, bei anderen ist viel Platz. Einige sind schräg (und aufsteigend gebaut). In jedem Theater müssen wir die Abstände für bestimmte Formationen (knifflige Dreiecke, diagonale Linien in verschiedenen Winkeln, schwierige Querschnitte …) neu bestimmen und mögliche Probleme besprechen.
15:30 Uhr
Gruppenprobe. Die gesamte Gruppe probt
einige Stücke auf der Bühne, um sicherzustellen, dass alles so ist, wie
es sein soll. Bei diesen Proben sieht man auch, ob hinter der Bühne
eventuell böse Überraschungen lauern auf die man sich einstellen muss:
Achtung! Auf der Hut sein vor Wölbungen im Tanzteppich, die sich bis zur
Hinterbühne erstrecken. Die Ein- und Ausgänge prüfen, weil es hier
mehr Seitenvorhänge als sonst gibt. Aufpassen: nicht in die große
König-der-Löwen-Requisite neben dem Schnellumkleideraum laufen! Man kann
sagen, hinter der Bühne läuft eine eigene Show – die das Publikum nicht
sieht.
17:00 Uhr
Abendessen heißt: wir füllen uns mit den
richtigen Sachen, um gut durch die Show zu kommen. Einige von uns gehen
auf dem kürzesten Weg zur Nespresso-Maschine, ich entscheide mich aber
lieber für Fleisch, Gemüse und eine herzhafte Suppe – nicht zu
vergessen: das Dessert! Einige Tänzer lassen den Zucker weg, aber für
mich wäre das wie Sauerstoffentzug. Nach dem Abendessen nehme ich immer
etwas Süßes. Beispielsweise einen Muffin – oder zwei.
17:45 Uhr
Nachbesserungen. Jetzt ist es an der Zeit,
meine Haare zu einem engen Knoten zusammen zu binden – ich nenne es
„Haargefängnis”. Auch das Make-up wird gemacht. Circa eine Stunde vor
Showbeginn starten wir das Aufwärmtraining und Üben die Sprünge, wie:
Drehungen, Fan-Shen, Überschläge und andere Techniken, die wir für die
Aufführung benötigen.
19:00 Uhr
Der Vorhang wird herunter gelassen und das Haus öffnet.
Ich schlüpfe in mein erstes Kostüm und überprüfe alles noch einmal
dreifach. Während sich alle auf der Bühne versammeln, hören wir die
gedämpften Stimmen des Publikums durch den dicken Vorgang.
19:28 Uhr
„Meine Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten, bevor wir beginnen …“
Zu diesem Zeitpunkt, wenn die Moderatoren Backstage eine allgemeine
Durchsage vorlesen, sind wir bereits alle in Position und bereit. Wir sind aufgeregt, warten aber bis die Ankündigungen zu Ende
sind, bevor wir uns gegenseitig viel Glück wünschen. Das machen wir mit
einer Reihe von Handschlägen, dramatischen Gesten und geflüsterten guten
Wünschen.
19:30 Uhr
Gooooooooooong, es ist Showtime! Jede Shen
Yun-Vorstellung beginnt mit einem Gongschlag. Dann erhebt sich der
Vorhang, Nebelschwaden strömen von der Bühne und eine wunderschöne
Szenerie kommt zum Vorschein. Die Energie, von 80 Künstlern, die
gemeinsam die Bühne zum Leben erwecken, ist förmlich spürbar. In diesem
Moment fließt alles, wofür wir in den letzten sechs Monaten gearbeitet
haben, in einem Herzschlag zusammen und verschmilzt zu einem Ganzen.
21:42 Uhr
Der Vorhang fällt zum letzten Mal, und wir
sind fertig – zumindest für heute. Die Tänzer
versammeln sich auf der Bühne, um die Vorstellung kurz revue passieren
zu lassen. Das ist wirklich hilfreich, denn jeder kann aus den
Erfahrungen lernen. Wenn man ein Team hinter sich hat, kommt einem das
Leben nicht so … stressig vor. Und alle Schwierigkeiten sind leichter zu
meistern.
21:45 Uhr
Abschminken, Klamotten an und zurück
zum Bus. Ich bin inzwischen hundemüde und dennoch ist es für mich der
schönste Teil des Tages. (Wenn wir nun in ein neues Theater weiterfahren würden, müssten wir noch circa eine Stunde einpacken. Aber das
wäre eine eigene Geschichte.)
Auf der Rückfahrt zum Hotel plaudern wir über die Show, naschen und genießen einfach das Leben. Und, oh ja, ich kann endlich meine Haare aus ihrem „Gefängnis“ befreien.
22:30 Uhr
Nach einer heißen Dusche falle ich ins Bett und kuschle mich hinein.
Kurz bevor ich einschlafe, erfüllt mich eine tiefe Zufriedenheit und
ein Erfolgsgefühl. Es ist die Art von Freude, die man hat, wenn man
einen Berg besteigt und dann schließlich den Gipfel erreicht. Es ist ein
Gefühl, mit dem nicht einmal Schokolade mithalten kann.
Bald bin ich tief im Traumland … Morgen liegt ein weiterer arbeitsreicher Tag vor mir. Aber was auch immer auf mich zukommen wird, ich werde bereit sein!
Xindi Cai
Tänzerin
9. März 2019