Das Einmaleins des klassischen Chinesisch (Teil 2)
Im ersten Blog Klassisches Chinesisch, haben wir einige der eher technischen Aspekte des klassischen Chinesisch besprochen, sowohl im Hinblick auf die Historie als auf die Linguistik. Es gibt definitiv einige Argumente, die gegen das klassische Chinesisch sprechen – es ist leicht falsch zu interpretieren und schwer zu entziffern, wenn man nicht bereits eine starke sprachliche Grundlage und ein gutes Maß an historischem Wissen hat.
Doch trotz dieser Herausforderungen diente das klassische Chinesisch über Tausende von Jahren faktisch als Schriftsprache. Und das nicht nur in China, sondern auch in anderen ostasiatischen Ländern.
[Bildunterschrift: Denkmal für gefallene Krieger, geschrieben in klassischem Chinesisch, gefunden in Kenroku-en, einem der „Drei Großen Gärten Japans.“]
Was also war der Grund für die weite Verbreitung und anhaltende Beliebtheit? Einige behaupten, dass dies auf den großen historischen Einfluss Chinas in Südostasien zurückzuführen ist. Andere meinen, dass es an der effizienten Nutzung der Schreibfläche lag, da der Text eines Dokuments zunächst in Bambusstreifen geritzt wurde. Auch als Papier verfügbar wurde, förderte dessen Knappheit die Verwendung eines kompakteren Schreibstils. Klassisches Chinesisch war für Gelehrte und Beamte, die mit weniger Worten mehr ausdrücken wollten, die perfekte Wahl. Außerdem gab es noch einen Pluspunkt: Im klassischen Chinesisch ist keine Interpunktion beim Schreiben erforderlich – Kommas, Fragezeichen und Punkte sind alle impliziert und werden nicht explizit geschrieben. Das ist doch sehr praktisch, oder?
Obwohl das oben Gesagte wahr sein mag, habe ich meine eigene Erklärung. China mit seinen Dutzenden von ethnischen Gruppen und Hunderten von gesprochenen Dialekten hat es geschafft, die Schriftsprache so zu vereinheitlichen, dass nicht nur Mandarin und Kantonesisch sprechende, sondern auch Japanisch, Koreanisch und Vietnamesisch sprechende miteinander schreiben und einander verstehen konnten, ohne eine einzige gemeinsame gesprochene Sprache zu haben. Und das konnten sie jahrhundertelang bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.
Zur Veranschaulichung habe ich einen kurzen Abschnitt aus einem klassischen chinesischen Text ausgewählt, der von dem Dichter-Philosophen Liu Yuxi (772-842 n. Chr.) während der Tang-Dynastie geschrieben wurde. Er heißt "Inschrift einer bescheidenen Behausung" (陋室銘). Sie lautet:
山不在高,有仙則名。Der Berg muss nicht hoch sein; wenn er einen Heiligen beherbergt, wird er berühmt sein.
水不在深,有龍則靈。
Die Gewässer müssen nicht tief sein; wenn sie die Heimat eines Drachens sind, werden sie magisch sein.斯是陋室,惟吾德馨。
Eine grobe und einfache Behausung wäre dies, wenn nicht meine Tugenden wären.苔痕上階綠,草色入廉青。
Moos wächst grün auf den Stufen, das Gras leuchtet grün in den Raum.談笑有鴻儒,往來無白丁。
Große Gelehrte reden und lachen darin; kein Ungelehrter geht hier durch.可以調素琴,閱金經。
Man kann auf der einfachen Zither spielen oder in den goldenen Schriften blättern.無絲竹之亂耳,無案牘之勞形。
Es gibt keine chaotische Musik, die das Ohr vernebelt, kein offizielles Dokument, das Härte hervorbringt.南陽諸葛廬,西蜀子雲亭。
Wie die Grashütte von Zhuge Liang in Nanyang, der Pavillon von Ziyun in West Shu.孔子云:“何陋之有?”
Wie Konfuzius sagte: "Wie könnte man es schmucklos nennen?"
Diese Passage wurde nach Lius Degradierung vom Palastbeamten zu einem einfachen Dorfbeamten verfasst. Angesichts der Herausforderungen durch Armut und öffentliche Demütigung ließ er diese Passage auf eine Steinplatte vor seiner Hütte meißeln. Der gesamte Text besteht nur aus einundachtzig Zeichen, und doch zeichnet er eine lebendige Szene, persifliert Schurken für ihre Arroganz und vermittelt die moralischen Werte, die er schätzte.
Ich denke gerne, dass das klassische Chinesisch so weit verbreitet war, weil es einfach eine so schöne Sprache ist, eine elegante und raffinierte Sprache, eine Sprache, die tiefe Bedeutungen, komplexe Ideen und emotionale Intensität vermittelt. Es ist eine Sprache, die es schafft, sowohl wunderschön bescheiden als auch eindeutig poetisch zu sein.
Jeff Shao
Gastautor