Oase im Meer
Ein Rätsel: Was bekommst du wenn du göttliche Inspiration und eine Kopfverletzung mit Minas Tirith verbindest? Nein, es ist kein Herr-der-Ringe-Nebenprodukt. Steht eine felsige Gezeiteninsel auf der Liste deiner Vermutungen?
Le Mont Saint-Michel (oder Sankt Michaels Berg für uns Englischsprechende) ist eine Insel, die sich nicht weit vor der Küste der Normandie in Frankreich befindet. Im Jahr 708 instruierte Erzengel Michael den Bischof von Avranches, St. Aubert, eine Kirche auf der kleinen Insel zu bauen. Anscheinend hörte der gute Mann schlecht, da er wiederholte Male die Aufforderung ignorierte. Die Legende erzählt, dass der Erzengel die Botschaft damit klar darstellte, indem er mit seinem Finger ein Loch in den Schädel von St. Aubert brannte.
In den vergangenen Jahrhunderten haben die Insel und ihr Kloster einiges erlebt. In der Vergangenheit wurden sie als eine Pilgerstätte, Gefängnis und Bildnis auf dem Bayeuxteppich dargestellt. Sie waren Zeugen von Kriegen, wurden durch Feuer beschädigt und waren täglichen Gezeiten unterworfen, mit bis zu 15 Metern Unterschied zwischen Ebbe und Flut. Im Vergleich führt das moderne St. Michel ein idyllisches Leben, überschaut Herden von Salzmarsch-Schafen, vermarktet ihre eigene Marke von Butterkeksen und serviert in seinem populären Restaurant Mere Poulard Omelette zu 45 Euro den Teller. Es besitzt auch mit seiner Architektur seinen eigenen Ruhm, denn es inspirierte J.R.R. Tolkien zu Minas Tirith —der Stadt mit den sieben Mauern. Google hat die volle Geschichte, aber um es kurz zu machen, werde ich diese Mini-Geschichtslektion beenden.
Unser Bus hielt hier auf dem Weg von Südfrankreich nach Irland (die restliche Reise fand hauptsächlich auf der Fähre statt) für einen kurzen Besuch an. Bei Ebbe, vollem Nachmittagssonnenlicht und einem moderaten Touristenfluss, war es ein idealer Tag zum Erkunden — außer der 40-minütigen Zeitbegrenzung durch unseren Terminplan. Um den Menschenmassen auszuweichen, nahmen unser Projektionsspezialist, gefolgt von einigen Orchestermitgliedern und mir, einen Weg der auf einigen Seitenstufen nach oben führte. Die Treppen führten uns durch ein Labyrinth von kurvenreichen Gassen und winzigen Hofgärten mit blühenden Blumen. Wir erhaschten flüchtige Blicke des Mont St. Michel und seinem Leben hinter den Kulissen, einschließlich einem privaten Skulpturengarten, einem kunstreichen Friedhof und einer Mutter mit ihren zwei kleinen Jungen — (möglicherweise) drei der um die vierzig ständigen Einwohner der Insel.
Unsere Abkürzung stellte sich als ein malerischer Umweg heraus, da wir hinter den meisten unserer Gruppe die Spitze des Felsens erreichten. Geködert von der Meeresbrise, machte ich Pause, um über die Brüstung zu spähen. Sogar aus dieser Höhe war es schwierig, überhaupt Wasser zu sehen. Bei Ebbe umringt die Insel eine weite trockene Einöde. Mit dem Himmel darüber, dem Sand darunter und dem Meer außerhalb, ist es leicht sich vorzustellen, wie die Mönche des Klosters sich hier vollkommen von der weltlichen Gesellschaft isoliert gefühlt haben mögen. Hier ist eine perfekte, abgeschiedene Oase — eine Welt für sich selbst.
Es ist nicht ganz Mittelerde, aber nicht weit davon entfernt.
Jade Zhan
Gastautorin
29. März 2011