Chinesische Tanzkunst würdigen
Mit fünf Jahren betrat ich das erste Mal einen Tanzübungsraum. Ich erinnere mich vage daran, dass ich durch den Raum hüpfte und dabei mit purpurroten Bändern winkte, die an Essstäbchen befestigt waren. Offenbar muss ich die Lieblingsschülerin gewesen sein, weil alle anderen kleinen Mädchen rosa Turnanzüge und Ballettröckchen tragen mussten, wohingegen mir erlaubt wurde, meinen liebsten regenbogenbunten Badeanzug zu tragen.
Vier Jahre später meldete meine Mutter mich beim Tanzunterricht an. Ich wurde einem Mischmasch aus chinesischem ethnischem Tanz, Volkstanz, Ballett, und Tumbling ausgesetzt. Nichts davon lernte ich gründlich, aber das störte mich überhaupt nicht. Tanzschuhe und etwas Musik war genug, um mich zufrieden zu stellen.
Lokale Veranstaltungen waren zu der Zeit meine einzige Chance, im Scheinwerferlicht zu glänzen. Meine Freunde und ich verbrachten viele Wochenenden damit, unser Repertoire aus Miniprogrammen auf Festen und Paraden aufzuführen. Wir verkleideten uns als Flöte spielende Feen, taten so, als würden wir Bösewichte mit unseren Klappschwertern erlegen, und gaben mit unserem unvollständigen Radschlagen an, während die Musik von Wong Fei Hong im Hintergrund spielte. Mama bezeichnete uns stolz mit dem Spitznamen “馬路天使", oder "Engel der Straßen."
Der Tanz wurde bald meine Leidenschaft. Es war ein unkontrollierbarer Juckreiz, der ständig gekratzt werden musste. In der Schlange beim Schulmittagessen spielte ich mit meinen Handgesten, ich sprang im Wohnzimmer herum, wenn ich der Mathehausaufgaben überdrüssig wurde, und übte in leeren Supermarktgängen Pirouetten; nur wenn ein Angestellter mich komisch anguckte, hörte ich auf. Es wundert mich, dass bei mir nicht irgendeine Störung diagnostiziert wurde.
Bald wuchs meine Leidenschaft von einem einfachen Begehren zu einer unersättlichen Gier. Ich bat um mehr Unterricht, aber Mama blieb unerbittlich. "Sie ist einfach eine typische asiatische Mutter", sagte ich mir, "Spart Geld, damit ich eines Tages aufs College gehen kann.“
Aber Mama war der Ansicht, wenn ich mich mit so vielen Tanzstilen beschäftigte, würde ich keinen Fuß auf den Boden bekommen. Sie wollte, dass ich klassischen chinesischen Tanz lernte - etwas, was ich vorher nie gesehen hatte - und war entschlossen, einen professionellen Lehrer zu finden, der mich von Grund auf unterrichtete.
"Klassischer chinesischer Tanz", dachte ich, "was ist daran so besonders? Wahrscheinlich sieht es aus wie Peking-Oper … Warum muss sie so pingelig sein?"
Weil sie Mama ist, und Mama mit allem pingelig war, vor allem, wenn es mit ihrer altmodischen Denkart zusammenstieß. Jedesmal, wenn sie mich beim Rockmusik hören erwischte, machte sie ein finsteres Gesicht. Sie besaß eine unverfrorene Abneigung für Instant Messaging, Videospiele und moderne Kunst. Obendrein machte sie alle meine Versuche aus der chinesischen Schule vorzeitig auszutreten zunichte. Unsere erhitzten Dispute endeten immer mit ihrem gut einstudierten Hinweis auf die Gefahr, eine "Banane" zu werden - außen gelb, innen weiß - und zu vergessen, dass ich Chinesin bin. Für mich war "Chinesisch" bloß ein Etikett, das beschreibt, welches Blut durch meine Adern fließt. Aber für sie umfasste der Titel seine reichen kulturellen Werte, und hoffte, dass ich mit derselben Moral und Würde wie meine Vorfahren aufwachsen würde. So suchte sie immer Gelegenheiten, mich über mein Erbe durch Geschichten, Sprichwörter und Kunst zu erleuchten.
Ich erinnere mich an das erste Mal, als sie mich mitnahm, um Shen Yun zu sehen, und mir meinen ersten Happen traditionellen chinesischen Tanz fütterte. Die Aufführung verzauberte mich wochenlang. Mein größtes Ziel war, an der Fei Tian Academy of the Arts zu studieren, eine Privatschule in New York, von der ausgewählte Schüler mit der Company touren. Dort konnte ich klassischen chinesischen Tanz von Weltklasselehrern lernen, und hoffentlich eines Tages öffentlich auftreten.
Fei Tian war bekannt dafür, chinesische Kultur zu fördern, aber Mama wusste, dass es nicht leicht sein würde, mich dahin zu schicken. Das größte Hindernis war mein Vater, der Mann, der mir mein Abc beigebracht hatte. Er betrachtete das Tanzen als Zeitverschwendung, und sträubte sich dagegen, sich von seiner dreizehnjährigen Tochter zu lösen. In unzähligen Nächten weinte ich mich in den Schlaf, während ich die Stimmen meiner Eltern hörte, die unten im Haus über meine Zukunft debattierten. Es schien unmöglich, ihn zum Umdenken zu bewegen. Aber Mama gab nie nach. Ich werde nie das Glitzern in ihren Augen vergessen, als sie versprach, dass sie irgendwie meinen Vater überzeugen würde, dass es sich lohnt.
Und ich erinnere mich noch, als sie fragte, ob ich Heimweh bekommen würde, und wie ich über die Idee lachte, auch wenn ich tief drinnen bedauerte, dass sie nicht mitkommen konnte. Das war die Mutter, die mich nie alleine einkaufen ließ und paranoid wurde, wenn sie mich auf dem Parkplatz nicht sehen konnte. Und dennoch war sie bereit, mich dreitausend Meilen von zu Hause weg zu schicken.
[… Fortsetzung folgt …]
Alison Chen
Gastautorin
10. März 2012