Argentinien – anders als erwartet
Um der beißenden Kälte in diesem Winter zu trotzen, haben wir uns, wie die meisten New Yorker auch, mit Fausthandschuhen, Schals und dicken Mänteln bewaffnet. Zum Glück wurde diese Einpackerei in der Ferienzeit für eine Weile unterbrochen, weil unser Ensemble nach Argentinien flog.
Normalerweise müssen wir in der ersten Hälfte unserer Tournee darauf warten, dass es Frühling wird – dann trösten wir uns immer damit, dass wir uns sagen, dass die Sonne schon um die Ecke wartet. Aber in diesem Jahr scheint der Frühling auszufallen und es geht gleich weiter mit dem Sommer.
Ich war zum ersten Mal in Südamerika und hatte daher wenig Ahnung von den dortigen Gebräuchen und der Kultur. Wie die meisten von uns stellte ich mir vor, hauptsächlich Sachen aus Leder zu kaufen und Steaks zu essen. Schon nach ein paar Tagen in Buenos Aires merkte ich, dass Argentinien sehr viel mehr zu bieten hat, als das, was von den Rindern stammt, wofür das Land ja bekannt ist.
Einen Vorgeschmack auf das, was uns in Argentinien erwarten würde, bekamen wir schon bei der Ankunft in der Hauptstadt. Während wir uns durch die drückende Hitze schleppten, hörten wir irgendwo Trommeln. Auf dem Weg in die Stadt kamen wir an ganzen Horden von Menschen vorbei, die laut sangen und Banner und Fahnen trugen. Einige streckten ihre Fäuste in die Luft, andere machten Krach auf vergammelten Blechdosen und Eimern. Ab und zu kam ein Bus vorbei, die Leute hingen aus dem Fenster, mit erhitzten Gesichtern.
Was war wohl los? War es eine normale Kundgebung, war es ein Protest?
Schließlich stellte sich heraus, dass wir gerade zur rechten Zeit gekommen waren, um mit den Leuten den Nationalen Tag für Demokratie und Menschenrechte zu feiern. In Argentinien scheint es im Jahr 150 Tage zu geben, an denen etwas oder jemand gefeiert wird – vielleicht der Tod eines Helden, oder der stärkste Bulle, oder es ist das Fest ihrer geliebten Empanadas. Tänzer Gary Liu fasst es so zusammen: "Es scheint, als ob hier jeden Tag eine Party gefeiert wird!"
Drei Tage später gab es schon wieder ein anderes Fest, und wir waren mitten drin. In Buenos Aires gibt es einen Fußball-Club, der Boca Juniors heißt. Ein Boca-Fan betrachtet sich selbst als den 12. Mann des Teams, da haben sie gleich den 12. Dezember zum „Welt-Boca-Fan-Tag“ ausgerufen. In Argentinien heißt er einfach 12-12-12. Tausende versammelten sich zur Feier dieses besonderen Datums, das es nur alle tausend Jahre einmal gibt. Sie haben aber nicht das Team oder einen der Spieler in den Himmel gehoben, sie haben ihre Faszination für den Fußball gefeiert.
Als wir gerade an diesem Tag auf Shopping-Tour in der Stadt waren, tauchten auf den Gehwegen plötzlich Massen von Fans auf, alle in Blau und Gold. Bitte, mich nicht falsch zu verstehen: Ich habe rein gar nichts gegen Sport-Enthusiasten. Aber da waren etwa 50.000 Fußball- Fanatiker auf der Pilgertour zum Obelisken im Zentrum von Buenos Aires (genau vor unserem Hotel), um ihre Verbundenheit mit den Boca Juniors zu demonstrieren. Das machte uns doch ein bisschen Angst, schließlich verstanden wir überhaupt nicht, was sie sagten, nur „BOCAAAAA!“, das konnten wir gut verstehen. Und dann wurde es noch unangenehmer, sie hatten Feuerwerkskörper, die so laut wie Kanonen donnerten.
Also suchten wir Zuflucht in einem Café in der Nähe. Es schien, als wären wir nun heil und geborgen, bis ich auf einmal ganz in einer Ecke einige Fußball-Fans entdeckte, die kalte Getränke vor sich hatten.
Das fand ich gar nicht gut. Ich spielte tatsächlich mit dem Gedanken, weg zu rennen und irgendwo anders Schutz zu suchen. Andererseits, diese Mädchen schienen keine Rowdys oder so zu sein; sie waren etwa so alt wie ich und sahen asiatisch aus …
Moment mal. Asiatische Boca-Fans? Doch wohl nicht.
„Diana? Faustina? Chen Xin?“ Ich schaute meine Mit-Tänzerinnen an und konnte es kaum glauben. „Was heißt denn das? Sag mir bloß nicht, Du bist inzwischen … eine von denen!“
Keine Antwort von Faustina; sie war zu sehr damit beschäftigt, ihr Kichern zu unterdrücken und tat sehr beschäftigt mit ihrem Café Latte.
Diana wiederum kam gleich zur Sache: „Wir wollten etwas besonders Argentinisches kaufen, da sind wir in den Nike-Laden gegangen und haben diese Trikots gekauft. Aber nachdem wir sie angezogen hatten und draußen waren, haben wir gemerkt, dass wir das Gleiche trugen, wie alle anderen! Uns war überhaupt nicht klar, dass sie einen freien Tag hatten!“ Jeder schaute uns an; manche mit dem Daumen nach oben, andere sogar mit der Faust in der Luft und sie schrieen dazu: „YEAH! BOCA!“
Zuletzt schlossen sie Freundschaft mit ihnen. Das Ende der Geschichte war, die Boca-Fans fanden sie toll.
Aber bei all’ der Feierei kam ich zu dem Schluss, dass die Argentinier mit allem etwas spät dran sind. Die meisten Geschäfte sind erst ab 14 Uhr geöffnet, weil die Bevölkerung gerne bis spät in die Nacht hinein feiert und dann bis in die Morgenstunden schläft. Ihre verschobenen Abläufe lassen die Tage länger erscheinen. Faustina meinte, wir sind nur nicht an ihre späteren Mahlzeiten gewöhnt und auch nicht daran, in der Nacht noch so viel zu unternehmen. Aber ich frage mich schon, ob da nicht mehr dahinter steckt.
Alison Chen
Gastautorin
30. Dezember 2012