Die vier Schönheiten
Wer schon einmal durch die Gänge eines chinesischen Supermarktes geschlendert ist, hat vielleicht schon kunstvoll gestaltete Dosen gesehen, auf deren Deckel vier chinesische Frauen abgebildet sind. Es sind die „Vier Schönheiten“ der chinesischen Geschichte. Was ist so besonders an diesen vier Damen, dass sie aus einer fünftausendjährigen Geschichte herausragen?
Ein chinesisches Sprichwort besagt, dass eine Dame so schön ist, dass sie „die Fische untergehen und die Vögel vom Himmel fallen lässt, den Mond überstrahlt und die Blumen beschämt“ (沈魚落雁,閉月羞花, chén yú luò yàn, bì yuè xiū huā). Diese Redewendung wurde diesen Frauen inspiriert:
Als Xi Shi auf einen Teich blickte, waren die Fische so geblendet, dass sie zurück ins Wasser sanken. Wang Zhaojun war so wunderschön, dass die Vögel bei ihrem Anblick vom Himmel fielen. Vor Yang Guifei schämten sich die Blumen zu sehr, um ihr Gesicht zu zeigen. Und die Schönheit Diao Chans stellte den Mond in den Schatten.
Ihr unvergleichliches Aussehen hob sie von den anderen ab, aber was ihren Ruf wirklich begründete, waren die wichtigen Rollen, die sie in der chinesischen Geschichte spielten. Wir stellen sie in chronologischer Reihenfolge vor.
1. Xi Shi
Die erste Schönheit war Xi Shi, die etwa im fünften Jahrhundert vor Christus lebte. Es war eine turbulente Zeit in der chinesischen Geschichte, in der das Reich geteilt war und mehrere Königreiche gegeneinander Krieg führten. König Fuchai aus dem Staat Wu hatte gerade den Staat Yue erobert und dessen König Goujian gefangen genommen. Um Fuchai zu besiegen und die Unabhängigkeit wiederzuerlangen, heckten der entmachtete König und seine Berater einen Plan aus, um Fuchai zu schwächen und abzulenken. Als ihre Geheimwaffe wählten sie Xi Shi.
Xi Shi stammte aus einem kleinen Dorf und wurde von Goujian und seinen Beratern am kaiserlichen Hof ausgebildet. Drei Jahre lang lernte sie Etikette, Gesang und Tanz. Als sie bereit war, wurde sie Fuchai vorgestellt, der sie sofort zu seiner Lieblingsdame machte.
Mit ihrer Schönheit lenkte Xi Shi den König ab. Nach zwanzig langen Jahren des Wartens, des Leidens und der Demütigung ergriff Goujian die Gelegenheit und besiegte Fuchai. Er erlangte die Unabhängigkeit des Staates Yue zurück.
Und was wurde aus Xi Shi? Das ist ein ziemliches Rätsel. Manche sagen, sie sei zwischen der Liebe zu Fuchai und der Loyalität zu ihrem Heimatland hin- und hergerissen gewesen und habe sich deshalb das Leben genommen, um ihre Mission zu beenden. Andere sagen, sie sei mit Goujians rechter Hand Fan Li durchgebrannt.
Unabhängig davon, wie sie ihre letzten Jahre verbrachte, wird sie seit mehr als zwei Jahrtausenden für ihre Aufopferung und die Verkörperung der Ideale von Loyalität, Mut und Selbstlosigkeit verehrt.
2. Wang Zhaojun
Etwa vier Jahrhunderte später – um 50 v. Chr. herum während der westlichen Han-Dynastie – wurde Wang Zhaojun geboren. Sie wuchs in einer aristokratischen Familie auf, war schon in jungen Jahren in den Klassikern bewandert und konnte die Zuhörer mit ihrem Pipa-Spiel in den Bann ziehen. Die talentierte Dame wuchs zu einer außergewöhnlichen Schönheit heran, daher war es nicht verwunderlich, dass sie in den inneren Palast aufgenommen wurde. Als Teil des Harems stand ihr die Möglichkeit offen, eine der Konkubinen des Kaisers zu werden.
Bei der Auswahl einer neuen Konkubine zog der Kaiser stets Porträts der Damen zurate, die sich in seinem Harem befanden. Die Porträts wurden jedoch von gierigen Malern angefertigt, die keine Skrupel hatten, das Bild einer Kandidatin zu verschönern, wenn sie ihm ein hübsches Trinkgeld zusteckte.
Zhaojun weigerte sich, die Maler zu bestechen, woraufhin diese ein abscheuliches Gemälde von ihr anfertigten. Obwohl sie eine erhabene Schönheit und brillante Talente besaß, wurde sie übergangen und dem Kaiser nie vorgestellt. Sie konnte ihn nur aus der Ferne bewundern und abwarten.
Der Kaiser kämpfte unterdessen um die Aufrechterhaltung eines brüchigen Friedens mit den mächtigen Nomadenstämmen im Norden. Im Jahr 33 v. Chr. besuchte ihr Häuptling die Hauptstadt der Han-Dynastie. Im Gegenzug für seine Tributzahlungen beschenkte ihn der Kaiser großzügig. Häuptling Huhanye hatte es jedoch eigentlich auf die Hand einer Han-Prinzessin abgesehen – er wollte ein kaiserlicher Schwiegersohn werden. Einerseits wollte sich der Kaiser nur ungern von seiner geschätzten Tochter trennen, andererseits wollte er dem furchteinflößenden Häuptling eine Freude machen und ihre Bindung festigen.
Da unterbreitet ein loyaler Berater dem Kaiser einen Plan. Warum nicht, so sagt er, ein anderes Palastmädchen verkleiden, das den Platz der Tochter einnimmt? Der Kaiser stimmt zu, und das Mädchen, das ausgewählt wird, ist niemand anderes als Zhaojun, die dem Kaiser zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt war und für ihn keine Rolle spielte.
Der Berater nähert sich Zhaojun und fragt sie: „Bist du bereit, dich für den Frieden des Reiches mit dem Häuptling verheiraten zu lassen und in der nördlichen Wildnis unter den Nomaden zu leben?“ – Zunächst lehnt sie den Vorschlag ab und denkt an ihr wunderbares Leben im Han-Palast. Sie könnte auch in der Nähe des Kaisers bleiben und eines Tages, wer weiß … Im Vergleich dazu wäre das Leben in den unerbittlichen Steppen der nördlichen Regionen kalt und hart. Ein trostloses Dasein in einer einfachen Jurte fristen, tagein, tagaus das Vieh hüten, in einem fremden Land, in einer fremden Sprache, mit Menschen und Gebräuchen, die sie nicht kannte, und ihre Familie nie wiedersehen …
Doch Zhaojun dachte an all die Menschen, die von ihrer Entscheidung betroffen sein würden. Sie verstand, was ein erfolgreiches Heiratsbündnis für die Han-Dynastie bedeuten würde – das Ende von Krieg, Leid und Tod auf dem Schlachtfeld. Sie seufzte, beruhigte ihr Herz und stimmte zu.
Als sie gerade aufbrechen wollte, kam der Kaiser, um nach ihr zu sehen. Er war schockiert! Vor ihm stand kein gewöhnliches Palastmädchen, sondern eine Frau von überirdischer Schönheit, die sein Herz höher schlagen ließ. Er war auf der Stelle verliebt.
Der Kaiser wollte Zhaojun für sich selbst, konnte jedoch sein Versprechen gegenüber dem Häuptling nicht brechen. Schweren Herzens begrub der Kaiser jeden Gedanken daran, sie zu behalten. Der Häuptling hingegen war hocherfreut, dass der Kaiser ihm die himmlischste Frau geschenkt hatte, die er je gesehen hatte. Früh am nächsten Morgen verließen die Nomaden den Palast mit ihrer neuen Königin. Zhaojun drehte ein letztes Mal ihren Kopf, um den Kaiser und den sich entfernenden Palast zu betrachten – ein Bild, das seither in Kunstwerken verewigt wurde.
Nach ihrer Ankunft in der Steppe passte sich Zhaojun an die Lebensweise der Nomaden an und wurde zu deren beliebter Königin. Sie vergaß jedoch nie ihre Heimat und drängte den Häuptling und andere Anführer stets dazu, friedliche Beziehungen zu pflegen. Auch nach dem Tod ihres Mannes blieb sie für den Rest ihres Lebens bei ihnen, und dank ihr gab es für bemerkenswerte sechzig Jahre keine Kriege zwischen den Nomaden und den Han.
Ihre Geschichte wurde 2022 von Shen Yun in dem Mini-Tanzdrama „Die Geschichte der legendären Wang Zhaojun“ dargestellt.
3. Diao Chan
Von der westlichen Han-Dynastie zu den letzten Tagen der östlichen Han-Dynastie im zweiten Jahrhundert nach Christus: Dort ist die dritte Schönheit anzutreffen: Diao Chan. Sie war Protagonistin einer ausgeklügelten Schönheitsfalle, mit der ein brutaler Tyrann gestürzt werden sollte. Die Geschichte wurde in dem klassischen Roman „Die Geschichte der drei Reiche“ festgehalten.
Die Geschichte beginnt, als der Kaiser stirbt und sein Sohn auf den Thron gesetzt wird. Ein tyrannischer Kriegsherr namens Dong Zhuo nutzt die Schwäche des jungen Kaisers aus, um die Kontrolle über den königlichen Hof zu erlangen. Er wird von dem Wunsch getrieben, selbst Kaiser zu werden. Dong Zhuo ist brutal und blutrünstig und lässt jeden Beamten hinrichten, der es wagt, sich ihm in den Weg zu stellen.
Unterstützt und beschützt wird er dabei von seinem Adoptivsohn Lü Bu, einem großen, schneidigen und furchterregenden Krieger.
Das Reich steht kurz vor dem Zusammenbruch. Der loyale Minister Wang Yun ist zutiefst beunruhigt und sucht nach einem Ausweg. Seine eigene Adoptivtochter, die wunderschöne Diao Chan, spürt seine Verzweiflung und fragt, ob sie ihm helfen kann.
Plötzlich hat Wang Yun eine Idee. Er schmiedet einen Plan, doch der ist heikel und gefährlich, – vor allem für seine unschuldige Tochter Diao Chan.
Der Minister erzeugt einen Konflikt zwischen dem Tyrannen und seinem Adoptivsohn, indem er Diao Chans Hand zuerst Lü Bu und dann Dong Zhuo zur Ehe anbietet. Diao Chan kommt daraufhin verzweifelt zu Lü Bu zurück und behauptet, sie gehöre ihm, doch Dong Zhuo wolle sie zwingen, ihn zu heiraten!
Lü Bu ist wütend auf Dong Zhuo, dieser wiederum glaubt, Lü Bu wolle ihm seine Frau wegnehmen. In seiner Wut tötet Lü Bu Dong Zhuo und flieht aus dem Palast. Die Falle schnappt zu.
Diao Chans Handlungen sind ein Musterbeispiel für „yi“ (義). Dieser Begriff vereint die Werte Loyalität, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit und ist das Hauptthema des Romans „Die Drei Reiche“ (er ist sogar im chinesischen Titel des Romans enthalten: san guo yan yi).
Die Geschichte von Diao Chan wurde in Shen Yuns Tanzdrama Die Schönheitsfalle aus dem Jahr 2020 sowie in der Originaloper Die List (The Stratagem) aufgegriffen.
4. Yang Guifei
Die Geschichte der vierten Schönheit ist die Geschichte von Yang Guifei. Es ist eine Liebesgeschichte aus dem achten Jahrhundert, der Blütezeit der großen Tang-Dynastie.
Kaiser Tang Xuanzong ist von ihrer Schönheit angetan, woraufhin sie seine Lieblingskonkubine wird. Der Kaiser überhäuft Lady Yang mit kaiserlichen Titeln und kostbaren Juwelen und schenkt ihr ein Leben in Glanz und Gloria. Schon bald verbringt der Kaiser alle seine Tage mit Lady Yang und gibt sich den schönen Dingen des Lebens hin.
Doch während sie speisen und tanzen, braut sich außerhalb des Palastes Unheil zusammen. Die Anführer der militärischen Fraktionen gewinnen an Macht und planen eine Rebellion, während korrupte Beamte die Familienmitglieder von Lady Yang bestechen.
Der Kaiser vernachlässigt jedoch weiterhin die Staatsgeschäfte zugunsten seiner Herzensangelegenheiten. Seine Berater protestieren und mahnen immer wieder, aber er ignoriert sie. Als die Rebellen schließlich in den Palast eindringen, sind der Kaiser und seine Begleiter gezwungen zu fliehen.
Außerhalb der Reichweite der Gefahr, weigern sich die Berater und Wachen des Kaisers, wie bisher weiterzumachen. Sie beschuldigen Lady Yang den Kaiser abzulenken und ihn dazu zu bringen, seine Pflichten zu vernachlässigen, wodurch die Tang-Dynastie in den Abgrund getrieben wird. Sie wollen die Tang-Dynastie nicht weiter verteidigen, solange Lady Yang nicht bestraft wird, – indem sie sich das Leben nimmt. Da der Kaiser keine Möglichkeit sieht, die Situation zu lösen, willigt er mit gebrochenem Herzen ein.
Die Geschichte dieser vierten Schönheit wurde 2023 in Shen Yuns Tanzdrama Der Tang-Kaiser und Lady Yang dargestellt.
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Wer das nächste Mal in einem chinesischen Supermarkt eine Blechdose findet, auf der die vier Schönheiten abgebildet sind, sollte jetzt in der Lage sein, diese zu erkennen und zu identifizieren: Ist das Xi Shi, die am Wasser Blumen pflückt? Zhaojun mit ihrer Pipa und dem roten Umhang? Lady Yang mit ihrem kunstvollen Kopfschmuck und dem goldenen Gewand aus der Tang-Dynastie? Und Diao Chan, die mit feuchten Augen ein Räucherstäbchen hält?
Es war nicht nur ihre Schönheit, die die vier Damen herausragen ließen, sondern auch ihre Taten. – Würde man sich an sie sonst auch nach vielen hundert Jahren noch erinnern?