Vollkommene Couture
Ich hatte noch nie so viele Kostüme für eine Vorstellung wie in diesem Jahr: 15! Stellen Sie sich das vor: 15 Kleider und Roben gepaart mit Zubehör aller Art – und das innerhalb von zwei Stunden.
Nach so vielen Spielzeiten habe ich immer noch Ehrfurcht vor den schönen Dingen, die unsere Kostümabteilung anfertigt. Alle Stoffe, Pailletten, Gürtel, Schnallen und Spitzen werden mit akribischer Sorgfalt zusammengestellt. Jedes Modell ist noch detailreicher verarbeitet als es die Zuschauer der ersten Reihe jemals erkennen könnten, außer wenn der harte Kern dieses vorne sitzenden Publikums ein Fernglas hat, was übrigens ein alltäglicher Anblick im Shen Yun-verrückten Taiwan ist.
Verwandlung in Höchstgeschwindigkeit
So sehr ich auch herumtrödeln und genießen möchte, ich habe keine Zeit dafür. Während der Show sind wir praktisch in einem Staffellauf – wir müssen in Kostüme springen, auf die Bühne sprinten, tanzen, zurück zum Schnellwechsel-Raum rasen und uns in Sekundenschnelle umziehen, um eine völlig andere Figur darzustellen.
Schon im Eröffnungsstück machen wir Äonen lange Zeitreisen von der Vorgeschichte bis zur Han-Dynastie (206 v. u. Z. - 220 u. Z.). Und wieviel Zeit steht uns für die Verwandlung zur Verfügung? Wenig mehr als eine Minute. Bevor ich es mir in diesem türkisfarbenen Hofdamenkleid bequem machen kann, fällt der Vorhang schon wieder! Innerhalb eines Herzschlags katapultieren wir uns mit Kleidern in kräftigem Orange und Grün in die Tang-Dynastie (618-907 u. Z.). Und die Show ist erst seit fünf Minuten im Gange.
In diesem Jahr bringen uns die Tänze und Kostüme vom eisigen Hochland Tibets in das mongolische Grasland. Wir erscheinen in prächtigen Palästen in Hülle und Fülle – wie denen der Han, Tang und Qing sowie in Mond- und Tiefsee-Drachenpalästen.
Während der Reise wird sichergestellt, dass wir mit jedem Kostüm von der Frisur bis zu den Schuhen der Zeit und der Figur entsprechend angezogen sind. Es ist zwingend notwendig, dass wir uns bei den Zeitsprüngen an die Mode halten, auch wenn wir nur für einen Augenblick verweilen.
Auf der anderen Seite fühle ich mich schuldig, weil ich nicht jedem äußeren Erscheinungsbild die Zuwendung geben kann, die es verdient hat. Als eine Hommage an all unsere erlesenen Kostüme und großartigen Mitarbeiter der Kostümabteilung, möchte ich deshalb gerne eine Legenden-inspirierte Redewendung teilen.
Bildschönes Kleidungsstück
Es war einmal eine laue Sommernacht, als ein junger Mann namens Guo Han ein Nickerchen in seinem Hof machte. Plötzlich spürte er eine duftende kühle Brise. Herrlich, dachte er, und er öffnete langsam seine Augen.
Gerade in diesem Moment schwebte eine einzelne Fee vom Himmel herunter. Überrascht, aber auch fasziniert, näherte er sich der Göttin und fragte, wer sie war.
Sie antwortete: „Ich bin das Webermädchen vom Himmel und mache gerade einen Ausflug.“
Als sie näher kam, konnte er die feine Kleidung des Mädchens besser erkennen. Von Kopf bis Fuß war sie sehr fein gekleidet, absolut perfekt und buchstäblich nahtlos! Unabsichtlich dachte der wie gebannt schauende Junge laut: „Wie ist das möglich?“
Die Fee antwortete lachend: „Aber das ist doch ganz klar. Im Himmel wird unsere Kleidung nicht mit sterblichen Nadeln und Fäden genäht!“
Dann entschwand das Mädchen, so anmutig wie es erschien, wieder in den Himmel.
Und der staunende junge Mann war wieder allein und hörte nur noch die vielen in den Hainen zirpenden Grillen.
Und aus dieser Geschichte wurde die Redewendung:
„Nahtlos, wie ein himmlisches Kleidungsstück“, tiān yī wú fèng (天衣無縫). Damit wird etwas Fehlerloses beschrieben, das mit meisterhaftem Geschick angefertigt wird.
Ein ungewöhnliches Lob
Wenn ein jeder Ton des Musikers perfekt ist, wenn eine jede Bewegung des Tänzers Ihre Erwartungen übertrifft, dann nennt man es „nahtlos wie ein himmlisches Kleid.“
Wenn ich dann wieder mitten in einer australischen Hitzewelle anfange zu schmelzen, komme ich zu der Überzeugung, dass auch die Barista, die mir ein großes, schönes Matcha-Erfrischungsgetränk macht, dieses Lob für ihr Kunstwerk verdient! (Raten Sie mal, wo unsere Kompanie jetzt gerade ist? Es ist Sommer und in dieser Woche wird die 41-Grad-Marke geknackt.)
Bis zum nächsten Mal!
Betty Wang
Gastautorin
21. Februar 2016