Ich selbst sein
Also ehrlich, wer steht schon gerne jeden Morgen früh auf? In meinem Fall heißt das, ich würde den Wecker gerne auf „Schlummern“ stellen, aber ich widerstehe dem, denn wenn ich das täte, dann hätte ich weniger Zeit, mich zu recken und zu strecken; aus dem Bett zu klettern und ganz behutsam aufzutreten, denn der Kontakt zwischen dem harten Boden und deinen müden Füßen wirkt wie lähmende Schocks in den Beinen.
So fühlt es sich meistens an, wenn ich morgens aufwache. Ich hasse es, aber ich liebe es, denn es sind wirklich nur diese paar Opfer, die mir erlauben, jeden Tag das zu tun, was ich so liebe.
Tänzer bei Shen Yun zu sein, bedeutet auch, eine Menge Opfer bringen. Sichtbar sind der physische Schmerz und die Erschöpfung. Da ist auch die emotionale Seite, dass man leider monatelang weit weg von der Familie und den Freunden ist. Glücklicherweise ist meine Schwester im Ensemble, das ist mein kleines Trostpflaster. Und abgesehen davon fühlt sich das ganze Ensemble wie eine große Familie an.
Leute, die nicht auf der Bühne stehen, sagen manchmal zu mir: „Bist du nicht zu jung, um dich bereits einem so anstrengenden Lebensstil zu verpflichten? Vermisst du nicht die Chance, deine Jugend zu genießen? Bist du dir sicher, dass du das so haben willst?“
Es geht mir nahe, dass sie das lediglich als einen harten Job betrachten. Aber für mich ist es genau das, was ich am Liebsten aus meiner Jugend machen möchte. Die physischen und geistigen Opfer bringe ich für die Leidenschaft zu meiner Kunst und für die Chance, sie mit der ganzen Welt zu teilen.
Viele in meinem Alter suchen noch immer ihren Platz in der Welt, sie fragen sich, ob sie jemals Glück oder einen perfekten Lebensweg finden werden. Ich habe schon alles gefunden, was ich brauche. In wenigen Jahren bin ich schon mehr auf der Welt herumgekommen, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Und ich habe gute Freunde gewonnen, mit denen ich jeden Tag verbringen kann.
Ich denke, Leben bedeutet in der Gegenwart zu leben, sich nicht so viele Gedanken über die Zukunft zu machen oder in der Vergangenheit zu verharren. Von seinen Fehlern lernen, aber nicht auf Zehenspitzen herumlaufen, um weitere (Fehler) zu vermeiden.
Ich möchte nicht ein Mensch sein, der immer nach mehr sucht und versucht, etwas zu sein, was er nicht ist, auf der anderen Seite aber nicht zu schätzen, was er gerade vor sich hat – die kostbaren Dinge, die ihn gerade ausmachen.
Warum also nicht seine Freude am Augenblick haben und alles schätzen, was ich bekommen habe?
Seron (Guang Ling) Chau
Tänzerin und Sopranistin
29. März 2013