Gen Norden in den Winter
Unter normalen Umständen bin ich jemand, der wenig Gepäck mitnimmt. Ich schleppe ungern einen prallen Koffer durch die ganze Welt. Eine Reisetasche genügt, mehr kann ich nicht schultern. Mich schaudert es bei dem Gedanken, dass ich im Kostümrock und mit Schuhen mit Absätzen noch die Hälfte meines Gewichtes enge Treppen hochschleppen muss. Daher kommen nur die unverzichtbaren Dinge auf meine Packliste.
Als ich jedoch hörte, dass unser Ensemble dieses Jahr ganz Kanada abdecken würde, musste ich eine Ausnahme machen. Meine Freunde von der Shen Yun Touring Company, die im vergangenen Winter in diesen Städten auftraten, erzählten mir Geschichten, die durch Mark und Bein gingen: „Ich habe noch nie in meinem Leben eine solche Kälte erlebt! Ohne die dickste Haglöfs-Jacke nicht zu überleben! Wir mussten unsere Stiefel nachschicken lassen!“
Ich versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass sogar die Vögel im Winter in Richtung Süden geflogen sind. Wir machten uns jedenfalls auf den Weg zur Begegnung mit dem Frost. Wenn Sie eine Tänzerin persönlich kennen, wissen Sie sicher, dass wir nicht gerne frieren. Während unseres diesjährigen Geschenkeaustausches kurz vor den Feiertagen (auch bekannt als Wichteln vor der Tournee) habe ich wohl noch nie auf einmal so viele Geschenke zur Abwehr von Kälte ausgepackt gesehen. Und nachdem ich schon wochenlang in den New Yorker Bergen Temperaturen unter dem Gefrierpunkt ausgehalten hatte, hatte ich eigentlich genug. Und dann kam der Packtag – ich ging aufs Ganze.
Mantel für arktische Verhältnisse
Skihose
Handschuhe (das dickste von fünf Paaren … zwei waren Geschenke von anderen Ensemblemitgliedern)
Wintermütze
Pelzschal
dicke lange Socken für das Hotel
Thermowärme-Socken für Busfahrten
„Heattech“-Shirts und Leggings
Stulpen-Legwarmer für das Theater
Pullover aus 100% Wolle
Daunenjacke, die man zusammenpressen kann
Müllsack-ähnliche Wärmehose
große Packung HotHands-Taschenwärmer
Akkutaschenwärmer
Ich sah mich gut auf die gnadenlose Subarktis vorbereitet. Und nicht ohne ein bisschen Stolz rief ich meine Mutter an, um ihr das zu sagen. Meine Bostoner wintererprobte Mutter empfahl mir dringend, ein paar Schafsfellsocken zu kaufen. Schafsfellsocken? Gibt es die überhaupt, oder war das ein Hirngespinst ihrer mütterlichen Zuneigung? Ich beschloss, dass ich wahrscheinlich ohne sie auskommen könnte.
Am Weihnachtstag passierte die Shen Yun World Company die US-Grenze und wir kamen an unserer ersten Station, Ottawa, an. Am nächsten Tag, dem zweiten Weihnachtstag, hatten wir unsere erste Show.
Für mich ist die erste Vorstellung der Spielzeit immer sehr aufregend, mit einer Prise Nervosität verbunden. Ich weiß nicht, ob die Zuschauer wussten, dass es unser erster Auftritt war, aber ihre Begeisterung war wirklich ermutigend. (Offenbar gab es sogar einen Zuschauer, der bei den neun Malen, die Shen Yun in Ottawa zu Gast war, etwa 30 Vorstellungen besucht hatte). Alles in allem fühlten wir uns wirklich willkommen.
Und wissen Sie was? So kalt ist es eigentlich gar nicht. Nach den Auftritten in Ottawa, Hamilton und Montreal hatte ich das meiste meiner Thermokleidung noch gar nicht getragen. Nur an Silvester war es besonders stürmisch und der fünfminütige Fußweg zurück zum Hotel war etwas schwierig. Aber insgesamt war es in Ostkanada wärmer als im Dezember in New York. Und anders als zu Hause hatten wir hier kaum Schnee.
Vielleicht freut sich nicht nur das Publikum, sondern auch das Wetter, dass wir hier sind?
Ungeachtet aller Vorsichtsmaßnahmen und der übertriebenen Vorbereitung habe ich festgestellt, dass wir noch nicht in die Tundra geschickt wurden. Ohne die erwarteten Schwierigkeiten wie Unterkühlung, Schneeblindheit, Frostbeulen – nur ein Scherz, vielmehr kalte Muskeln und schwierige Verkehrsverhältnisse – bin ich also umso entschlossener, dem Publikum mein Bestes zu geben.
Apropos Entschlossenheit, wir waren so beschäftigt mit den Auftritten, dass ich meine Vorsätze für das neue Jahr noch gar nicht niedergeschrieben habe. Ich beginne meine Liste mit: Lege dein ganzes Herz in jede Vorstellung von 2020!
Betty Wang
Gastautorin