Sei 80 Liter, kein „250er”
Beim Blättern durch ein chinesisches Wörterbuch fand ich eines Tages eine Definition für Pistazie, die aber nichts mit der Nuss zu tun hatte. Wenn jemand Sie eine Pistazie nennt, heißt das im Chinesischen, dass Sie glücklich und zufrieden sind.
Die chinesische Sprache ist voller bunter Redewendungen. Sie entstammen beliebten Märchen, lokalen Bräuchen, historischen Episoden und vielen anderen Quellen. Viele von ihnen lassen sich Formulierungen in anderen Sprachen zuordnen, und es ist faszinierend zu sehen, wie unterschiedliche Kulturen die gleichen Begriffe in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck bringen.
Zum Beispiel nennen wir eine Lieblingsperson im Englischen „Apfel meines Auges“, aber im Chinesischen ist die Lieblingsperson die „Perle meiner Hand“. Was wir im Westen ein „Land, in dem Milch und Honig fließen“ nennen, heißt im Chinesischen ein „Land von Fisch und Reis“ (und in der Tat ist die westliche Küche oft süßer als die chinesische!). Ich denke, das beweist, dass „jede Rübe ihr Loch hat“ – was bedeutet: Jedem das Seine.
Einschätzen
Jetzt überlegen wir einmal: Wer ist die talentierteste Person, die Sie sich vorstellen können? Ein Künstler, ein Koch, ein Mathematiker, ein berühmter Sportler oder vielleicht ein Tänzer? Und wie begabt ist dieses Wunderkind, wenn es … in Litern gemessen wird?
Es ist Zeit für Geschichten!
Der brillante Staatsmann Cao Cao aus der Zeit der Drei Königreiche (ausgesprochen „Tsao Tsao“) zeugte drei Söhne, von denen jeder auf seine eigene Weise beeindruckend war. Der jüngste des Trios war Cao Zhi („Tsao Dschö”).
Trotz vieler Mängel war er immer Vaters absoluter Liebling. Er war ein schwerer Trinker, hatte eine schlechte Selbstdisziplin und handelte schrecklich unüberlegt. Interessanterweise war er zufällig auch ein literarisches Genie.
Auf der anderen Seite war der Erstgeborene Cao Pi („Tsao Pi“) gierig nach Macht und kümmerte sich wenig um seinen Bruder. Da er lange fürchtete übergangen zu werden und nicht die Macht seines Vaters zu erben, nutzte er jede Möglichkeit seinen kleinen Bruder in Ungnade fallen zu lassen.
Am Vorabend seines Todes und nach gründlichen Überlegungen übergab der alte Staatsmann schließlich die Macht an seinen ältesten Sohn. Immer noch eifersüchtig und unsicher, versuchte Cao Pi seinen Bruder für immer loszuwerden. Er konnte es nicht direkt tun, denn das wäre ziemlich verpönt gewesen. Deshalb wandte er einen Trick an.
Nachdem sein Vater gestorben war, trank der jüngere Cao Zhi, in seiner ganz eigenen Cao-Zhi-Weise, bis er beschwipst war, und verpasste die Beerdigung vollständig. Cao Pi sah seine Chance, brachte seinen Bruder vor Gericht und legte die Bedingungen seiner Strafe fest: Verfasse ein Gedicht in der Zeit, in der du sieben Schritte machst, oder bezahle mit deinem Leben. Das Thema? „Bruderschaft.“ Oh, und du darfst das Wort Bruder kein einziges Mal in dem Gedicht erwähnen. Gehe!
Cao Zhi, der Meister der Metapher, gab dann diese Verse von sich:
Die Bohnen wurden gekocht, um eine Suppe zu machen
Und Bohnenstangen nährten die Flamme des Kessels
Die Bohnen klagten als Gruppe:
Du Bohnenstange, du weißt, dass wir die gleiche Wurzel haben,
warum also lässt du dich dazu herab uns zu foltern?
Nicht weniger von Gefühl als von Ehrfurcht erfüllt, ließ Cao Pi den kleinen Bruder frei.
Prägnant und dennoch kraftvoll wurde der „Vierzeiler in sieben Schritten” Cao Zhis berühmtestes Werk. Im Laufe der Zeit wurde Cao Zhi, der schon im Alter von 10 Jahren spektakuläre Essays geschrieben hatte und mit 20 mehr als 10.000 Zeilen Poesie vortragen konnte, ein repräsentativer Dichter seiner Zeit – genau wie sein Vater, ein Staatsmann und Kriegsherr. Im Laufe der Dynastien bis heute, etwa zwei Jahrtausende später, wurden beide als Meister der Kunst verehrt.
Ein Gelehrter schrieb später, dass von 100 Litern Talent, die sich auf eine bestimmte Anzahl von Menschen verteilten, 80 Cao Zhi gehörten (vielleicht eine alte Version der 80/20 Regel des Pareto-Prinzips). Dies führte zu dem Sprichwort „achtzig Liter Talent,“ cái gāo bā dǒu (才高八斗), was bedeutet, dass jemand außerordentlich begabt ist.
Begriffe in Bezug auf Talent
Hier stehen einige andere auf ein Talent bezogene Redewendungen, in der Reihenfolge von größer nach weniger:
“Himmlische Generäle und Truppen” (天兵天將, tiān bīng tiān jiàng): Unbesiegbar, überlegene Kräfte.
“Drei Köpfe und sechs Arme” (三頭六臂, sān tóu liù bì): Sehr einfallsreich, übermenschlich.
“Duckender Tiger, Versteckter Drachen” (藏龍臥虎, cáng lóng wò hǔ): Verborgenes Talent.
“Halbvolle Flasche Essig” (半瓶醋, bàn píng cù): Unausgegoren, Dilettant.
“Nicht ein Tropfen Tinte in ihm” (胸無點墨, xiōng wú diǎn mò): Ungelernt, nicht kultiviert.
“Zweihundertfünfzig” (二百五, èr bǎi wǔ): Unwissend, Trottel.
Neugierig auf mehr? Weitere Geschichten zu Redewendungen in Kürze!
Betty Wang
Gastautorin
26. Mai 2016