Wenn die Sterne bewegt werden
Lassen Sie mich Ihnen erzählen, wie ich meinen Geburtstag in diesem Jahr während der Tournee verbracht habe.
Nach einer Doppelvorstellung mit anschließendem Leerräumen des Theaters in Toronto und einer Grenzüberquerung weit nach Mitternacht, ziemlich benommen von unregelmäßig auftretenden Schlafgeräuschen, mehr dem Highway ausgeliefert als einem Bett, absolvierte die Shen Yun World Company einen halsbrecherischen Aufbau im Theater meiner Heimatstadt Boston, ein Doppel-Doppel-Auftritt und den Abbau an einem Wochenende.
Dann, 48 Stunden später, nachdem ich die letzten Reserven meiner Energie in die Aufführungen gesteckt hatte, versank ich fix und fertig in meinem Bussitz und war so hungrig, dass es schon wehtat – und war dennoch erfüllt von dem wunderbarsten Gefühl der Zufriedenheit.
Wir spielten vor vier vollen Häusern. Das Publikum war großartig. Ich habe auch meine Familie und viele alte Freunde gesehen. Aber dem größten Teil meiner Zufriedenheit lag eine Erkenntnis zugrunde. Als der letzte Vorhang am Sonntagabend fiel und ich zum Abschied winkte, stellte ich fest, dass es, obwohl mich das Leben um die ganze Welt geführt hatte (dann zurück, herum und wieder herum), da etwas gab – eine höhere Macht, einen großartigen Plan, der über das Gewöhnliche hinausgeht – und mich auf meiner Reise begleitet hat.
Dies ist ein Blog über Kindheitserinnerungen, Verantwortung für seinen Glauben zu übernehmen und einer vorbestimmten Berufung zu folgen.
Mein Boston
Obwohl wir alles, was wir an diesem anstrengenden Wochenende von meiner
Heimatstadt zu sehen bekamen, durch Busfenster, hauptsächlich im Dunkeln
der Nacht und mit schweren Augen betrachteten, hüpfte mein Herz immer
noch bei jedem Blick auf eine Straße oder ein Gebäude, an das ich mich
erinnerte.
Das Wang Theater, in dem wir auftraten, war einen Spaziergang weit entfernt von einem meiner Lieblingstreffpunkte – dem Boston Common. Als Kind verbrachte ich viele Sonntagnachmittage im Common, dem großen öffentlichen Innenstadt-Park, der auch der älteste in Amerika ist. Ich liebte es, meine Runden von den Schaukeln über die Planschbecken zu den Ställen zu drehen, wo die Pferde der Parkaufseher gefüttert wurden (attraktiv für die Augen aber nicht für die Nase).
Jeden Dezember bietet sich im Park eine perfekte Feiertagsszenerie. Das Planschbecken gefriert zu einer Eisbahn und ist gefüllt mit Massen von Eisläufern, die in endlosen Kreisen umhergleiten. Bäume, Dächer, Autos und alles andere in Sichtweite friert mit nicht weniger als einem Fuß Schnee darauf ein. Um sich herum hört man immer irgendwo Schlittenglocken klingeln, die das zuverlässige Läuten des uralten Uhrenturms übertönen. Und der verlockende Duft von mit Honig gerösteten Nüssen weht durch die Luft, so angenehm, dass er Ebenezer Scrooge (Charles Dickens: A Christmas Carol, Anm. d. Red.) ein süßes Lächeln auf das Gesicht zaubern könnte. In der Tat ein herrlicher Ort.
Während der Grundschulzeit nahm ich mit meiner Mutter Woche für Woche die Straßenbahn, die ratternde T, dorthin aber aus keinem der oben genannten Gründe.
Im Park
Wie zig Millionen von Menschen in über 70 Ländern praktiziert meine
Familie Falun Dafa: Eine Meditationspraxis mit uralten Wurzeln, durch
die Geist und Körper verbessert werden. Als ich sehr jung war, ging ich
zum Praktizieren von Dafa in den Park, um zu meditieren (was in China so
üblich ist wie das Joggen oder Picknicken in den Staaten) und erinnerte
mich immer daran, ein gutes Kind zu sein, indem ich den Prinzipien von
Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht zu Hause und in der Schule
folgte.
In einem Sommer veränderte sich dann etwas.
Im Juli 1999 begann das kommunistische Regime Chinas mit einer brutalen und ungeahnten Verfolgung gegen Falun Dafa. Von der anderen Seite der Welt erhielten wir Nachrichten von Bücherverbrennungen; Propaganda, die über den zentralen Fernsehsender der Partei gesendet wurde; Scheinprozesse; illegale Überfälle, Verhaftungen und Bestrafungen sowie Todesfälle aufgrund von Folter während der Haft.
Falun Dafa-Praktizierende in China, die auf die Ungerechtigkeit mit friedlichen Mitteln reagierten, mussten mit der schlimmsten Behandlung rechnen. Berichte, die uns aus China erreichten, lösten bei uns Entsetzen aus. Und in kürzester Zeit entstand eine weltweite Basisbewegung. Diejenigen, die in Ländern lebten, die die Menschenrechte und die Glaubensfreiheit respektierten, traten hervor, um die Menschen aufzurütteln. Von da an gingen wir nicht nur zum Meditieren in den Park, sondern auch, um den Menschen von der schrecklichen Verfolgung und den dabei begangenen Verbrechen zu erzählen.
Wenn man im Land der mit Kirschen verzierten Eisbecher lebt, ist es schwer, sich vorzustellen, dass im Ausland Millionen mit erschütternder Unterdrückung konfrontiert sind. Aber das war die schaurige Wahrheit. So schien das Leben schon im zarten Alter plötzlich ernsthafter zu werden. Von da an nahmen wir ständig an Paraden, friedlichen Kundgebungen und Kerzenlicht-Wachen teil, brachten Petitionen in Umlauf und redeten mit den Menschen. Boston Common wurde, wie zahlreiche andere Parks auf der ganzen Welt, zu einer wertvollen Plattform, um diese Nachricht zu verbreiten. Und für gewissenhafte Falun Dafa-Praktizierende und ihre Kinder wurden sie so zu viel mehr als Aufenthaltsorte an sonnigen Nachmittagen und Frisbee-Wiesen.
So bin ich in zwei parallelen, unterschiedlichen Welten aufgewachsen. In der einen lernte ich Vorgeschichte, Algebra und antike römische Dekrete. In der anderen wurde ich zusammen mit meiner Mutter in die Öffentlichkeitsarbeit, den Einsatz für Menschenrechte und die Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen eingeführt. Vor einem halben Jahrhundert rief eine entrüstete Welt „nie wieder“, doch es geschah „wieder“. Menschen in China mit dem gleichen Glauben wie in Dutzenden anderer Länder verlieren ihr Leben und ihr Zuhause. Außerhalb von China haben wir alle die Verantwortung übernommen, diese Nachricht zu verbreiten und die Ungerechtigkeit zu beenden, wo wir nur konnten. Über Boston hinaus führten diese Projekte auch meine Mutter und mich nach New York City, Houston, Washington D.C., Genf (Schweiz), Reykjavík (Island) und viele andere Orte. Dort gibt es auch tolle Parks.
Vom Park auf die Bühne
In meinem 15. Lebensjahr entschloss sich das Schicksal, mich – das vor
einiger Zeit noch schüchterne Kleinkind, das ein baby-pinkfarbenes
Tanzröckchen trug – in die Tanzstudios und auf die Bühne zu führen.
Shen Yun Performing Arts ist eine andere Plattform: Eine mit Rampenlicht, Live-Orchester, digitaler Kulisse und einer Garderobe mit prinzessinnenwürdigen Kostümen. Seitdem hatte ich nicht mehr so viel mit Broschüren, Paraden oder öffentlichen Parks zu tun. Wenn es Pferde gab, ritten wir über die mongolischen Ebenen. Und wenn wir Schwingen hatten, dann bewegten wir unsere Körper im Rhythmus. Als Mitglied von Shen Yun musste ich hart trainieren, weit reisen und mit viel Herz herumwirbeln.
Wenn ich zurückdenke, dann stelle ich fest, dass sich beim Übergang vom Park zum Theater im Wesentlichen nichts geändert hat. Auf der Shen Yun-Bühne verbreiten wir mit Hilfe der Künste eine ähnliche Botschaft: Authentische traditionelle Kultur und die Wahrheit über China von der Antike bis heute. So fand ich meinen neuen „Boston Common“ überall dort, wo wir auf Hunderten von Bühnen der ganzen Welt, vom London Coliseum bis zum Capitol Theatre von Sydney auftraten.
Die Sterne werden bewegt
Wie groß war die Chance in der vergangenen Spielzeit, dass von den fünf
Shen Yun-Gruppen mein Ensemble in Boston, nur Minuten vom Common
entfernt, an meinem Geburtstag, eines Sonntag Nachmittags auftreten
durfte? Außerdem waren wir im Wang Theatre (keine Verwandtschaft mit
Betty Wang, aber immer noch cool). Und für das Schlussstück der
Vorstellung spielte ich eine Falun Dafa-Praktizierende, die im Park
meditierte. Da oben wurden wohl die Sterne bewegt.
Vielleicht saßen Leute, denen ich vor einem Jahrzehnt begegnet war, unten im Publikum. Und vielleicht kamen die, die ich vermisst habe, schließlich an diesem verheißungsvollen Wochenende zu uns, geführt von der Hand des Schicksals.
Betty Wang
Gastautorin
11. August 2017